Diese Kombination macht neugierig: «Artiste étoile» Sheku Kanneh-Mason gestaltet sein erstes Solo-Rezital nicht etwa mit Klavier, sondern mit Gitarre! Zu diesem Zweck hat er sich mit dem Brasilianer Plínio Fernandes zusammengetan, der in seiner Heimat längst ein Star ist, weil er die Saudade, den wehmütigen Weltschmerz, so kunstvoll mit dem klassischen Gitarrenspiel verbindet. Dabei darf der berühmteste brasilianische Komponist nicht fehlen: Kanneh-Mason und Fernandes eröffnen ihre stimmungsvolle Late Night mit der seraphischen Aria aus den Bachianas brasileiras von Heitor Villa-Lobos, die eine zauberhafte Abendstimmung heraufbeschwört. Und sie beschliessen sie, zumindest imaginär, in einem verruchten Nachtclub in Buenos Aires mit den Tangorhythmen Astor Piazzollas. Die instrumentalen Farben von Cello und Gitarre mischen sich fantastisch, Kanneh-Mason und Fernandes musizieren mit einem Atem und Herzschlag. Weil es den beiden selbst so viel Spass macht, haben sie für ihr ungewöhnliches Duo schon neue Werke bei Leo Brouwer und Rafael Marino Arcaro bestellt. Und sie haben eine Sonate des 1988 verstorbenen Radamés Gnattali ausgegraben, die uns von der Schönheit Südamerikas träumen lässt.
Kein zweiter Komponist (von Komponistinnen ganz zu schweigen) hat die Musikgeschichte so stark geprägt wie Johann Sebastian Bach — und das nicht nur im Bereich der Klassik! Bachs Spuren finden sich auch im Jazz, im Pop oder in der Folk Music. Das brachte «artiste étoile» Sheku Kanneh-Mason auf die Idee, in seinem Rezital die Fährte aufzunehmen. Er spielt Auszüge aus Bachs Erster Suite für Violoncello solo und präsentiert gemeinsam mit dem Pianisten Harry Baker Bearbeitungen von Bach-Präludien und -Chorälen. Mit der Bachiana brasileira Nr. 2 stellt er eine Hommage des Bach-Verehrers Heitor Villa-Lobos an den legendären Thomaskantor vor. Und mit Mährischen Volksliedern von Leoš Janáček eröffnet er unerwartete Querbezüge: Wie Bach habe auch der Tscheche Janáček, als eine Art Bruder im Geiste, auf den reinen Quell der Volksmusik zurückgegriffen, erklärt Kanneh-Mason. Aber er geht noch einen Schritt weiter, zu den beiden amerikanischen Jazz-Grössen Bill Evans und Pat Metheny, und zeigt, wie die Polyphonie à la Bach auch bei ihnen fruchtbar wurde. Genauso wie bei den britischen Soul- und Folksängerinnen Lianne La Havas und Laura Mvula, die ebenfalls nicht fehlen dürfen.
Zum Abschluss seiner Residenz als «artiste étoile» hat sich Sheku Kanneh-Mason einen echten Brocken vorgenommen: das Erste Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch, das ihm alle Finessen der Spieltechnik abverlangt und dabei kaum einen Takt Pause gönnt. Den dritten Satz muss er sogar ganz allein spielen, ohne Unterstützung des Orchesters. Auch interpretatorisch stellt das doppelbödige Werk einige Herausforderungen: Motorische Besessenheit und lamentoartige Kantilenen lassen vermuten, dass Schostakowitsch hier an sein eigenes Schicksal in der Sowjetunion gedacht hat, die ihn jahrzehntelang gängelte und mit Verhaftung oder Schlimmerem bedrohte. Schostakowitschs grossem Idol Gustav Mahler gehört die zweite Hälfte des Abends. Dirigent Paavo Järvi sorgte im letzten Sommer mit seiner Interpretation der Dritten Sinfonie am Pult des Lucerne Festival Orchestra für einen der Höhepunkte — er habe «völlig neue Massstäbe» gesetzt, schwärmte die Frankfurter Allgemeine. Diesmal präsentiert der estnische Maestro Mahlers Erste mit ihren Naturlauten, Ländler- und Klezmer-Anklängen und natürlich dem verfremdeten Bruder-Jakob-Kanon. Fast ein Heimspiel für das Tonhalle-Orchester!