Über Sylt von Kettcar
Es gibt Bands, die haben sich abgefunden. Mit sich, dem Leben, mit allem. Über die muss man gar nicht erst reden.
Es gibt Bands, die haben sich damit abgefunden, dass man sich damit nicht abfinden kann. Die ihr Dagegensein verkaufen und sich einrichten in ihrer Rebellionsdoppelhaushälfte, die Wände in protestrot gestrichen, auf dem Boden das Widerstandslaminat.
Und dann gibt es Kettcar. Die sich nicht abfinden wollen, mit nichts, die alles infrage stellen und niemanden schonen. Am wenigsten sich selbst. Das beweist „Sylt“, das dritte Album, das oft überrascht und manchmal schockiert und wenig Antworten bietet und schon gar keine leichten, stattdessen Fragen, Fragen, Fragen. Das zeigt, wie kurz die Strecke sein könnte vom Zweifel zur Verzweiflung und wie schnell man vom Aufreger zum Aufgeber werden kann.
Sie hätten es sich leicht machen können. Ein bisschen Introspektion hier, etwas Gefühligkeit da, vorsichtig nach der Seele tasten und das eigene Befinden erkunden. Doch das funktionierte diesmal nicht. Warum? Vielleicht, weil es inflationär geworden ist, weil sich jeder auf sein Herz beruft. Und warum auch nicht? Jeder hat schließlich eins: Mohammed Atta, George W. Bush, Dieter Bohlen, Kevin Kuranyi, Franz Müntefering, Josef Ackermann.
Kettcar sind weit gekommen. Statt Ich und Du spricht nun das wütende Wir, das gnadenlos schildert, was schief läuft.
„Sylt“ ist eine realistische und daher mitunter düstere Chronik. Den einen wird die Würde genommen („Geringfügig, befristet, raus“, „Würde“), die anderen verzichten freiwillig darauf („Graceland“, „Kein Außen mehr“). Romantik und Gemütlichkeit kriegen hier die Tür vor die Nase. Das ist nur konsequent, denn was hätte auch noch kommen sollen, nach „Balu“, nach „Nacht“, nach „48 Stunden“? Und selbst wenn mal der Mikrokosmos, das kleine Leben, betrachtet wird wie in „Am Tisch“, „Wir müssen das nicht tun“ oder „Verraten“, – die Pointen sind böse, der Rahmen ist bitter, die Haltung ist aufrecht.
Auch die musikalischen Karten wurden neu gemischt. „Sylt“ hat so gar nichts heimelig Wohltuendes, das Album schlägt Krach, es schmerzt, es drängt und ist dabei trotzdem mitreißend, tanzbar und leidenschaftlich. Strukturen werden überworfen, Kontrapunkte platziert und immer wieder Zeichen gesetzt – siehe zum Beispiel „Kein Außen mehr“. Wenn das infernalische Gitarrenfeedback den ersten beginnenden Refrain im Rohr krepieren und nicht raus lässt (wohin denn auch, es gibt ja - siehe Songtitel – kein Außen mehr), dann entsteht einer dieser magischen Momente, wo alles passt und die es nur in der Musik gibt.
Vom Kartenhaus über das Hamsterrad in die Knochenmühle –dies ist eine Platte, die an viele verlorene Orte reist. Nach „Graceland“, wo Elvis starb und mit jedem neu eröffneten Seitentrakt, mit jeder ausgestellten Sandwichverpackung und jeder durchgescheuchten texanischen Besuchergruppe ein bisschen weiter schrumpft, vom Mythos zum Witz. Und natürlich nach „Sylt“, den größten Verlierer unter Deutschlands Inseln. Jeden Winter frisst die Nordsee ein üppigeres Stück Strand auf. Man kommt gar nicht hinterher mit dem Erdeauffüllen. Und obwohl klar ist, dass dieses Möchtegern-Hampton genau wie L.A. ohnehin bald im Meer versinkt, machen sie immer weiter, um zu bewahren, was dem Untergang geweiht ist: Scampi-Spieße, Schampusgläser, Garagen, in denen Porsches stehen. Manche Dinge sind es Wert, gerettet zu werden. Andere nicht. Das wissen Kettcar, und nach all den bitteren Wahrheiten, die nur allzu leicht ans Aufgeben denken lassen, kommt zum Abschluss mit „Wir werden nie enttäuscht werden“ das dicke Ausrufezeichen. Der Song ist ein stürmischer Ausbruch, der den Weg aus der Resignation weist, eine der seltenen Antworten auf dieser großen Fragen-Platte. Hier wird dann doch noch die Brücke in die Vergangenheit geschlagen, in der die Rede war vom „Einsehen zum Schluss, dass man weitermachen muss“. Denn Kettcar mögen sich verändert haben. Aber sie sind immer noch dieselbe Band. Und was für eine.
Ingo Neumayer