Veranstaltung am 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke
Es lesen Werner Wölbern und Birgitta Assheuer
Konzeption und Einführung: Ruthard Stäblein
„Der sexuelle Vorgang ist das Medium, durch das das Leben zu uns spricht… die Totalverschmelzung, was sich in den höchsten Liebesträumen der Geist unter vollem Liebesglück vorstellen möchte. In den schönsten Liebesliedern lebt etwas von dieser mächtigen Empfindung, als sei das Geliebte gar nicht nur es selbst, sondern auch das Blatt noch, das am Baume zittert, der Strahl noch, der auf dem Wasser glänzt.“- Nur eigenartig, dass die Verfasserin dieser Hymne auf Eros 36 Jahre alt werden musste, um einen 21-jährigen Jüngling zu treffen, der ihr erst diese Einsicht und Allsicht ermöglichte, bis sich also Lou Andreas- Salomé und Rainer Maria Rilke in der letzten Mainacht 1897 in einer Hütte in Wolfratshausen „erkannten“, biblisch gesprochen.
Bis dahin blieb Lou eine Frau, die zwar manch ältere Männer verrückt machte, darunter den bärtigen Eigenbrötler Friedrich Nietzsche, dem sie das Peitschlein zeigte. Selbst Lous Ehemann, Professor Andreas, durfte sie nicht „berühren“. Wie gelang es nun, den noch knabenhaften, zartbesaiteten René-Maria Rilke – so nannte ihn seine Mutter, die ihn in Mädchenkleidern aufzog – den Stein ins Rollen zu bringen, Jungfrau Lou zu bezirzen? – Es waren Briefe, die er mit einer Verve und Andacht an sie richtete, in denen er vor ihr niederkniete. Die etwa hundert Liebesgedichte, die er ihr widmete, bewegten Lou weniger. Sie waren ihr zu blumig, zu sentimental, zu ausgeschmückt. Nachdem der Brieffunke einschlug, veranlasste die erregte Muse Lou den Dichter, klarer, härter, einfacher sich auszudrücken. Und auch noch seinen Namen zu ändern. Rainer Maria Rilke sollte er sich von nun an nennen. Auch seine „nervös- ausladende“ Handschrift sollte er besser pflegen.
Die beiden Verliebten gingen schließlich gemeinsam nach Berlin, lebten tw. in einer Dreier-WG mit Ehemann Andreas zusammen, wo Rilke auch mal für alle drei vegetarischen Eintopf kochen durfte. Dann reisten alle drei in Lous Heimat nach Russland. – Bei der zweiten Russlandreise musste der Ehemann zu Hause in Berlin-Schmargendorf bleiben.
Schließlich schlug das Liebesglück in Verzweiflung um. Rilke konnte seine russischen Eindrücke nicht richtig poetisch fassen. Uralte Ängste kehrten in ihm wieder. Der „Liebesrausch“ kam zu einem Abschluss. Nicht von Angesicht zu Angesicht erfolgte die Trennung, sondern vermittelt durch einen Postboten, der Lous „Letzten Zuruf“ brieflich überbrachte. Aus ihrer Sicht trennte sie ein besonderer Grund, der Abgrund, die dunkle Seite in Rilke: „Das was Du und ich den 'Anderen' nannten, diesen bald excitirten, einst Allzufurchtsamen, dann Allzuhingerissenen, - das war ein wohlbekannter Gesell“ – Also umschreibt sie Rilkes Ängste, seine manisch-depressive Neigungen, die zu „Rückenmarkserkrankungen“ – wie man damals vor den Folgen der Onanie warnte – bis hin zu Geisteskrankheit und Selbstmord führen könnten. „Geh Deinem dunklen Gott entgegen: er kann Dich zur Sonne und Reife segnen.“ – Gab sie ihm noch als Rat zur Trennung mit. Rilke antwortete mit einem Gedicht:
„Warst mir die mütterlichste der Frauen, ein Weib so warst du anzuschauen. / Du warst das Zärteste, das mir begegnet, das Härteste warst du, damit ich rang. / Du warst das Hohe, das mich gesegnet – Und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.“
Aber die Liebe blieb, sie verwandelte sich nur. Aus Eros wurde Agape. Aus der sinnlichen Leidenschaft wurde eine fördernde Liebe. Zwei Jahre nach der Trennung schrieb Rilke ihr einen Verzweiflungsbrief aus Paris, in dem er ihr seine gesteigerten Ängste offenbarte. Lou schrieb ihm wie eine Freundin mütterlich zurück: „Du kannst dich von nun ab auf mich verlassen.“ Aus amor wurde amicitia. Sie dauerte bis zum Tod des Dichters. Sie wechselten über 200 Briefe, in denen seine Ängste ihr Gehör fanden, in denen sie sich gegenseitig trösteten und einander verstanden.
Wir wollen Ihnen eine Auswahl vorstellen, die bezeugt, wie aus dem Versezimmerer des Jugendstils der moderne Dichter der „Duineser Elegien“ werden konnte. Und aus der unberührten Muse der alten, „leibfremden“ Männer Nietzsche, Rée und Andreas, die Psychoanalytikerin des Narzissmus, der durch das Werk objektivierten, gerechtfertigten Selbstbespiegelung des Künstlers, und der Erotik. Erst die Sorge um Rilkes Ängste veranlasste Lou zur Psychoanalytikerin zu werden.
„Was heißt schon siegen lernen, überleben ist alles“ (Rainer Maria Rilke)
Foto: Alexander Englert