NIELS FREVERT - Pseudopoesie Tour 2023
Niels Freverts neues Album heißt Pseudopoesie, und davon abgesehen,
wie halluzinogen dieses Wort aussieht, ist es natürlich bemerkenswert,
dass gerade er, Frevert, Held aller Lieddichter/innen deutscher Sprache,
sein siebtes und schon wieder überraschendes Album Pseodopoesie
nennt. Ist das Koketterie oder hat der `ne Krise? Und warum haut er nach
seinem Prä-Covid-Erfolgsalbum Putzlicht schon wieder so einen Hammer
raus? Fragen, auf die wir wahrscheinlich mal wieder keine befriedigenden
Antworten bekommen werden, denn N. Frevert ist nicht zu fassen.
„Ich sing´ in einem Käfig, in dem der Algorithmus nicht greift“
‚Fremd in der Welt’
Es beginnt schon mit der Einordnung. Freverts Kollegen kriegt man alle
easy zu greifen. Da ist Jochen, der Intellektuelle. Thees, der Kumpeltyp.
Sven, der Romantiker mit den Romanen, und Gisbert, der aus der WGKüche
der Herzen. Bei Niels aber wird’s vage. Er war schon immer der,
der nirgendwo so richtig dazugehörte. Ein Einzelgänger, geheimnisvoll
und etwas unnahbar. Ein Flaneur, der alle paar Jahre mit zwei Händen
voll Liedern aus der Versenkung erscheint, für Verzückung sorgt und
wieder verschwindet in der Anonymität jener Großstadt, in der er seine
Geschichten findet. Ein Meister der stolzen Melancholie, bei dem Worte
wie Einwegfeuerzeugstichflamme zur Hook werden und jedes Lied der
Welt einen Blick abgewinnt, einen Moment oder eine Formulierung, die
man nicht mehr vergisst. Zu fein für’s Formatradio, zu verwirrend für den
Algorithmus.
Der Bruch kam mit dem 2019 erschienenen Album Putzlicht. Mit dem
erfand sich Frevert nach fünf Jahren Pause quasi neu, streifte das Korsett
des Liedermachers ab. Plötzlich war alles größer und druckvoller, als
hätten The War On Drugs seine Schreibklause gestürmt. Pseudopoesie
knüpft da an und geht noch weiter – auch dank des neuen Frevert-
Produzenten Tim Tautorat (Faber, Provinz, Tristan Brusch).
„Das Schwarze an deinem Handgelenk, ist das Kajal?“
‚Waschbeckenrand’
Bestes Beispiel für die Wandlung ist ‚Weite Landschaft’, der Opener und
die erste Single. Es beginnt wie ein Frevert-Stück von früher, eine dieser
aufrecht an der Liebe verzweifelnden Balladen – dann kippt’s, fällt auf die
Füße und rennt los. ‚Fremd in der Welt’ (Frevert über Frevert?) ist ein Hit,
‚Waschbeckenrand’ eine Miniatur mit universeller Wucht, wie sie nur
Frevert schreiben kann, das umwerfende ‚Träume hören nicht auf bei
Tagesanbruch’ eine radioheadsche Elegie auf die Sehnsucht, das
„Klappern von Geschirr’ die Fortsetzung von ‚Wind in deinem Haar’ von
Putzlicht.
Mehr denn je richtet sich sein Blick auf das Weitermachen hinter den
Fenstern der Großstadtwohnungen, in denen viele seiner Geschichten
spielen – diese hochverdichteten Momentaufnahmen, in denen ganze
Leben stecken. Freverts Lieder feuern nicht zum Durchhalten an, spenden
keinen Trost und geben keinen Rat. Sie legen sanft den Finger auf die
Wunde, da wo Träume verkümmern und Herzen verhärten, schieben dich
sachte zur Tür und lassen dich da stehen mit dem Schlüssel in der Hand.
Das ist große, zuweilen fast schmerzhaft schöne Popmusik, die das Leben
und die Menschen ernst nimmt, aus Alltäglichkeiten das Drama unserer
Existenz schält und neuerdings immer einen Ausweg bereithält: den
radikalen Neuanfang, die Flucht in ein neues Leben, so als Idee ...
Warum jedoch das vielleicht schon wieder beste Niels-Frevert-Album
aller Zeiten ausgerechnet Pseudopoesie heißt, ist eine dieser Frevert-
Fragen, mit der wir uns einen Zopf drehen können. Ist es der dritte Teil
einer P-Trilogie, die aus den Alben Paradies der gefälschten Dinge,
Putzlicht und Pseudopoesie besteht? Meint das Pseudo die Zweifel des
Dichters an seinen Texten? Oder ist es so eine Art Meta-Mittelfinger an
den Mainstream? Wie auch immer: Dieses an sich interessante Wort wirkt
etwas deplatziert auf diesem Album, schmälert den Genuss desselben
aber in keiner Weise.
“Der Blick ist weit und die Sehnsucht groß /
Und jeder Morgen ein neuer Versuch“
‚Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch’
Er sei „eigentlich auch ein ganz normaler alle dreieinhalb Jahre neues
Album Typ“, sagt er selber. Es sei denn, es gibt eine harte Krise, dann
dauert es schon mal eine halbe Dekade. Pseudopoesie erscheint 3,5 Jahre
nach seinem Vorgänger – ein Hinweis. Außerdem wollte Frevert
möglichst schnell wieder auf Tour. Und sein neuer Produzent Tim
Tautorat ist auf Zack – verliert keine Zeit, liebt das Risiko und spielt
Streicherarrangements einfach mal selbst ein. So kam es, dass
Pseudopoesie in nur sechs Wochen entstand – die kürzeste
Albumproduktionsphase seit dem Frevert-Debüt von 1997.
Aufgenommen hat er die zehn neuen Lieder mit der Live-Besetzung von
Putzlicht – das erste Mal, dass seine Band zwischen zwei Alben komplett
zusammenbleibt. Niels Frevert scheint angekommen zu sein: zwischen
den Stühlen, auf der äußeren Umlaufbahn oder einfach nur auf dem Weg
zum ewigen Weiter. Versuche, ihn zu fassen und er lässt los, macht nen
zweieinhalbfachen Salto unter der Zirkuskuppel ohne Netz, landet in
seinem Glitzertrikot, singt dir das Herz auf und ist wieder weg.
Tino Hanekamp
Einlass: 19:00 Uhr